Vierzehn Tage in der Holunder

Ein Montag Anfang August. Früh ist der Schulanfang in diesem Jahr. Der Sommer jedoch scheint eine Pause einzulegen, um den Schülern den Abschied von den Ferien zu erleichtern. Schwarze Wolken ziehen träge über den Morgenhimmel. Ein kühler Wind weht über den Schulhof. Immer wieder blicken Schüler und Pädagogen besorgt nach oben. Morgen soll „Waldtag“ sein. Die Grundstufe der Montessori-Schule Chemnitz plant eine Exkursion in den Zeisigwald. Die Wettervorhersage jedoch lässt wenig Hoffnung. Im Moment stehen alle Schüler und Pädagogen auf dem Schulhof. Traditionell beginnt das Schuljahr mit einer gemeinsamen Begrüßung. Neue Personen werden vorgestellt, Klassen- und Fachlehrer vorgestellt. Ingrid Heyer, die Direktorin, wünscht allen ein schönes neues Schuljahr.

Wenige Minuten später sitzen alle Schüler der Holunder-Klasse auf ihrem grünen Teppich im Kreis zusammen. Aufgeregtes Murmeln, fröhliches Lachen. Sie erzählen von Ihren Ferienerlebnissen, fragen die neuen Mitschüler aus, kommentieren die Veränderungen im Klassenzimmer. Ein großer Stadtplan von Chemnitz liegt in der Mitte. Zuerst wird die Schule gesucht und markiert. Danach zeigt jeder auf der Karte, wo er wohnt. Manche zeigen routiniert auf die richtige Stelle, einige bekommen Hilfe von ihren Mitschülern. Schnell entsteht ein Wettbewerb, wer den weitesten und wer den kürzesten Weg zur Schule hat. Erstaunen darüber, welche Strecke manche Schüler bereit sind, jeden Tag zurückzulegen, um an unserer Schule zu lernen.

Anschließend werden die Themen für den Waldtag vorgestellt. In diesem Schuljahr können die Kinder aus zwei Bereichen wählen. Die meisten Jungs der Klasse entscheiden sich für das Thema „Steinzeit“, die Mädchen für die biologischen Themen. Den Rest des Tages bereiten die Kinder ihre Portfolios vor, suchen erste Informationen aus Büchern und bereiten ihre konkreten Arbeitsaufträge für den Folgetag vor.

Lange Gesichter am Dienstagmorgen. Die Befürchtungen sind wahr geworden. Dunkle Regenwolken hängen über der Schule. Noch ist es trocken, doch die Aussichten für den Tag sind wenig hoffnungsvoll. Die Entscheidung fällt. Wir bleiben in der Schule und verschieben unseren Waldtag. Die Enttäuschung jedoch ist nur von kurzer Dauer. Die Mädchen bleiben im Klassenraum, arbeiten an Ihren Portfolios und forschen zu Ihren Themen. Die Jungs gehen auf den Hof. Unter einem Vordach und dichtem Blätterschirm der Bäume vor dem Regen geschützt sammeln sie Material für ein Modell einer steinzeitlichen Hütte. Dann die Herausforderung. Wem gelingt es, ohne Streichhölzer, Feuerzeug und industriellen Anzündern ein Feuer zu entfachen. Die Grundlagen dafür haben die Kinder im vergangenen Schuljahr zur Klassenfahrt von Falk gelernt. Ihr Wissen geben sie an ihre neuen Mitschüler weiter. Zusammen suchen sie Materialien. Sie schälen Birkenrinde für Zunder, sammeln kleine Stöcke und trockene Rinde. Mit Hilfe eines Magnesiumsteins und etwas Geschick flackern bald kleine Feuerchen auf dem Schulhof. Es regnet inzwischen wie aus Kübeln und bald können die Kinder das wohnliche Gefühl nachvollziehen, das ein Feuer an einer trocknen Stelle inmitten einer unwirtlichen Umgebung auslösen kann.

Später lässt der Regen nach. Inzwischen ist es kurz vor dem Mittagessen. Der Wind pustet die Wolken auseinander und lässt den Blick auf ein paar verwaschene blaue Flecken zu. Ab und an kämpfen sich vereinzelte Sonnenstrahlen auf die Erde. Mit einem selbstgebauten Bogen gehen die Jungs zum Volleyball-Feld, um ihr Geschick zu erproben. Der Bogen ist stark. Manch einer muss kämpfen, um dem widerspenstigen Pfeil eine Richtung und Weite zu geben. Stolz, wenn es gelingt, die provisorische Zielscheibe zu durchbohren.

Im Klassenraum sind die Mädchen fleißig. Die eindrucksvolle Reportage über das Geheimnis der Bäume des französischen Biologen Francis Hallé und des Dokumentarfilmers Luc Jacquet ersetzt zwar nicht den Waldtag, ist aber trotzdem ein interessanter Einstieg in das Thema der Pflanzenwelt. Hier erfährt man von der chemischen Sprache der Bäume, von bis zu 400 Meter langen Lianen und von durch Pflanzen vorgetäuschten Insekteneiern. In der Folge fertigen die Kinder Steckbriefe zu Pflanzen an. Sie forschen zur Blüte, untersuchen den Aufbau und unterscheiden verschiedene Blütenformen. Manche Schülerinnen beschäftigen sich mit dem Thema der Photosynthese. Ausgehend vom Aufbau einer Pflanze und der Struktur eines Laubblattes erforschen sie, wie eine Pflanze Kohlendioxyd mit Hilfe von Licht und Wasser in Sauerstoff umwandelt.

Wer so fleißig arbeitet braucht zwischendurch ein wenig Bewegung. Am Donnerstag hat die Klasse Holunder die Sporthalle reserviert. „Zombiball“ klingt seltsam, ist bei Kindern aber ein Dauerbrenner. Dabei bewegen sich alle Kinder frei in der Halle und müssen sich mit einem bzw. zwei Bällen gegenseitig abwerfen. Immer wenn ein Spieler abgeworfen wird, dürfen diejenigen zurück auf das Feld, die vorher von ihm abgeworfen wurden. Bis nur noch einer übrig bleibt. Fußball und Brennball, ein Parcour-Spiel, das auf Baseball basiert, folgen, bis die Kinder erschöpft aber glücklich zum Frühstück gehen.

Die erste Woche vergeht wie im Flug. Die Kinder bearbeiten ihre ersten Projekte, erstellen Portfolios zu steinzeitlichen und biologischen Themen, bauen ein Modell zum Wohnen in der Steinzeit und lesen Bücher oder hören Hörspiele zu dem Thema. Es gibt sogar einen oder zwei Schüler die heimlich still und leise auch schon ihren ersten Mathe-Test geschrieben haben. Am Freitag findet noch die Wahl der Klassensprecher statt. Es ist ein Entscheidungskampf zwischen einem Mädchen- und einem Jungenteam. Lars und Tim können sich knapp durchsetzen und werden die Klasse in diesem Schuljahr vertreten.

Am Dienstag der zweiten Woche scheint die Sonne hell am wolkenfreien Himmel. Die warme Luft lädt förmlich zu einem Besuch im Wald ein. Nach dem Morgenkreis verlassen wird die Schule halb neun, laufen zirka zwanzig Minuten durch das Yorckgebiet und eine Schrebergartenanlage hinüber zum Zeisigwald. In drei Gruppen arbeiten die Kinder. Sie beobachten Pflanzen, zeichnen, machen Fotos und sammeln Blätter. Eine zweite Gruppe beschäftigt sich mit dem steinzeitlichen Wohnen. Unter Nutzung der natürlich gewachsenen Umgebung und Fundstücken, wie Ästen, Rinde, Moos, Laub und Zweigen bauen die Schüler zwei Hütten. Die dritte Gruppe hat sich vorgenommen, Pfeil und Bogen zu bauen. Grundlage ist der richtige Stock für einen Bogen. Der erste Jubelschrei erstickt, als der gefundene Ast beim Biegeversuch bricht. Die Aufgabe stellt sich kniffliger dar, als gedacht. Es dauert eine Weile, bis die Schüler den idealen Rohling finden. Anschließend wird der Stock mit dem Taschenmesser von der Rinde befreit. Das nimmt eine lange Zeit in Anspruch. Gründlich flitzt die Klinge über das Holz und verwandelt den groben Ast in ein weißes Schmuckstück. Kerben für die Sehne werden geschnitzt, dann kann der Bogen das erste Mal gespannt werden. Fast wie im Flug vergehen die Stunden. Als die Pädagogen zum Aufbruch rufen, ist es kurz vor Mittag. Es stehen zwei Hütten, die Bögen sind fast fertig und eine Menge Material wurde gesammelt. Stolz sind die Kinder und glücklich. Mit einem Schatz an Erkenntnissen sowie Erfahrungen im Gepäck treffen sie zum Mittagessen wieder in der Schule ein. Die Bögen werden in der Schule noch beendet werden und einmal noch wird es „Klassen-Sport“ in dieser Woche geben. Die ersten beiden Wochen sind reich an Erlebnissen und gesammeltem Wissen. Auf vielen Gebieten haben die Kinder geforscht. In der Natur, praktisch mit eigenen Händen ausprobiert, gelesen, gesehen, gehört, mit Büchern, mit Material im wahrsten Sinne des Wortes „BEGRIFFEN“. Dabei hatten sie auch noch Spaß?! Es fühlt sich fast nicht an wie Schule und ist doch Unterricht und Alltag. Es macht Lust auf Lernen. Ein wahrlich schöner Start in ein neues Schuljahr.

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Vierzehn Tage in der Holunder
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Veröffentlich in der Kategorie "Secondary school", "Holunder" am 12.09.2016

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