Schule heißt Verantwortung. Verantwortung heißt Menschlichkeit

„B-A-U-M … Das ist ein Baum!“ Die Schülerin der Montessori-Schule Chemnitz hält eine Karte im Format Din A6 in die Luft, auf der das Bild eines Baumes gezeichnet ist und nennt den abgebildeten Begriff. Dabei bemüht sie sich um eine besonders deutliche Artikulation. Erneut wiederholt sie das Wort und schaut erwartungsvoll in die Runde. Schließlich wirft sie ein Knäuel aus roter Wolle einem Jungen zu und lächelt ihn auffordernd an. „B-A-U-M“ Das Wort kommt holprig über seine Lippen, doch er ist zu verstehen. Alle nicken anerkennend und der Junge wirft das Knäuel mit einem stolzen Lächeln weiter zu einem Mädchen ihm gegenüber.

Bilal ist dreizehn Jahre. Es ist einige Monate her, dass er mit seinem älteren Bruder seine Heimat Syrien verlassen hat, auf der Suche nach einem Platz ohne Bomben und ohne Angst. Tagelang war er unterwegs soweit die Füße tragen, über die Türkei, den Balkan, Ungarn, Österreich. Über Einzelheiten spricht er nicht. Der Vater soll irgendwo in der Türkei sein, die Mutter im Libanon. Vielleicht. Er hofft, sie bald zu sehen. Irgendwo ist Familie. In Hamburg oder Berlin. Seit einigen Wochen lebt er im Erstaufnahmelager in Chemnitz. Er ist einer von Vielen, eine Biografie von Vielen. Alleingelassen mit schlechtem Essen, schlechter Hygiene, ohne Privatsphäre, ohne Orientierung, ohne Perspektive, allein mit der Hoffnung auf Asyl. Irgendwann. Medical check. Transfer. Alltägliche Schlagworte, aber keiner weiß wann, keiner weiß wo. Hineingeworfen in ein Land, dass mit der Situation und mit sich selbst überfordert ist.

„Wer soll das verantworten?“ Die roten Buchstaben prangen anklagend auf dem weißen Bettlaken am Straßenrand. Ausdruck der Verunsicherung vieler Bürger in diesem Land. Sie gehen auf die Straße, ihren Unmut in die Nacht zu skandieren. „Werdet nicht fremd im eigenen Land“, fordern sie lautstark. Sie haben Angst vor Überfremdung. Angst vor der Islamisierung. Doch, was bedeutet das in einem Land, dass seit Jahren nach amerikanischem Vorbild lebt, wo die Sprache immer Englischer wird, die Autos aus Japan und die Konsumgüter aus China kommen, das Essen Italienisch oder Griechisch ist, die Schrift aus dem Lateinischem, die Zahlen aus dem Arabischen abgeleitet sind und der Gründer der offensichtlich bevorzugten Religion ein Jude war. Woher kommt die Angst vor der Islamisierung, als sei es eine ansteckende Krankheit. Dabei basieren der Islam und das Christentum auf denselben Wurzeln. Die Menschen, die zu uns kommen, sind keine Terroristen, keine Verbrecher. Sie wollen dasselbe wie wir. Sie wollen leben. In Frieden leben. Dafür sind sie dankbar. Für jedes freundliche Wort. Jedes Lächeln. Jede noch so kleine Geste. „Nein zum Heim“, heißt es jedoch auf den Transparenten. Natürlich habe man Mitleid mit denen, die Flüchten müssen und Krieg ist schrecklich. Sie sollen auch Hilfe bekommen, aber nicht hier, nicht nebenan. Der Ruf nach Integration wird laut. Doch wie soll das gehen, wenn die, die Kommen, allein gelassen werden, wenn niemand hilft, die Sprache zu lernen oder Grundlagen unserer Kommunikation und Kultur zu vermitteln?

Es ist kurz vor Ende des vergangenen Schuljahres, als die Montessori-Schule Chemnitz das erste Mal mit dem Thema konfrontiert wird. Eine syrische Familie fragt nach einem Platz für ihre Tochter. Ihr wird von der bisherigen Schule der Übergang zur Oberschule verweigert, weil das Mädchen noch Probleme mit der deutschen Sprache hat. Eine Förderschule wird angeraten. Unsere Schule hilft in der Not. Verein, Geschäftsführung und Lehrerschaft finden gemeinsam eine Lösung. Seit dem neuen Schuljahr ist sie eine Schülerin von uns und bereichert mit ihrer bloßen Anwesenheit das alltägliche Leben unserer Einrichtung.

Kurz darauf eskaliert die Lage. Immer mehr Flüchtlinge erreichen Deutschland. Ein Zeltlager zur Erstaufnahme wird in Chemnitz eingerichtet und geht im Dauerregen unter. Kurz darauf erfolgt der Umzug in die Turnhalle der Universität am Thüringer Weg. Feldbett an Feldbett wohnen und schlafen die Menschen, zusammengepfercht ohne Privatsphäre zu Hunderten in einem Raum. Tag für Tag. Woche für Woche. Eine Pädagogin unserer Schule wohnt im Nachbarhaus und organisiert aufopferungsvoll eine private Hilfe mit Nachbarn, Kollegen und Eltern unserer Schüler. Sie sind da, wo sie gebraucht werden. Kuchen werden gebacken, mit Flüchtlingen wird musiziert, gespielt oder gehäkelt. Die Kommunikation ist schwierig. Doch mit Mimik und Gestik lassen sich Brücken bauen und erste deutsche Vokabeln vermitteln. Viele Lehrer und Schüler unserer Schule spenden Kleidung, Spielsachen oder Geld. Es ist eine Welle der Hilfsbereitschaft. Alle Spenden gehen direkt dahin, wo sie gebraucht werden. Keine anonyme Hilfsorganisation fungiert als Mittler. Am Dienstag der dritten Woche des Schuljahres ist unser Sporttag. Das erst Mal werden drei syrische Familien aus der Turnhalle in unsere Schule eingeladen. Es ist ein kurzer Ausbruch aus dem Alltag. Schüler unserer Schule nehmen die Kinder an die Hand und führen sie von einer Station zur anderen. Für einen Tag sind die Sorgen und der Kummer vergessen. Sie schießen Tore, laufen auf Stelzen, werfen Bälle, ziehen am Tau und sind am Ende des Tages mit allen Schülern Teil des Stundenlaufes. Mit Tränen in den Augen sagt eine syrische Mutter voller Dankbarkeit, sie habe ihr Kind das erste Mal seit langem wieder Lachen sehen.

Pädagogen, Schüler und Eltern sind nun regelmäßig in der Turnhalle. Ein Begriff macht die Runde. „Verantwortung“. Dabei sollen Schüler tatsächlich Verantwortung in Form eines Projekts im sozialen Rahmen übernehmen. Der erste Studientag soll ein Probelauf werden. Einige Schüler unserer Schule sind in der Turnhalle. Sie lehren deutsche Vokabeln, spielen und malen mit Kindern. Sie sind einfach da und helfen. Ab dem Zeitpunkt sind regelmäßig Kinder aus der Turnhalle in unserer Schule. Einige von ihnen sind das erste Mal in einer Schule. Seit dem Frühjahr 2011 herrscht Krieg in Syrien, der keinen geregelten Schulalltag zulässt. Ein fester Stamm von sechs Kindern aus Syrien und dem Irak kommt jeden Tag. Die Kinder rechnen, schreiben und lesen. Sie lernen Vokabeln meist unter der Anleitung anderer Schüler aus unterschiedlichen Klassen.
In der ersten Woche der Herbstferien findet traditionell eine Kunstprojektwoche zum Chemnitzer Friedenstag am 5. März statt, an der sich Schüler unserer Partnerschule in Ústì nad Labem und anderer Schulen der Stadt Chemnitz beteiligen. Auch hier waren wieder Flüchtlingskinder eingeladen. Sie haben eine ganz persönliche Beziehung zu dem abstrakten Begriff „Frieden“. Der Krieg ist die Ursache, dass sie ihre Heimat verlassen mussten.

„H-A-U-S!“ Die Karte zeigt ein freundliches Gebäude mit gelben Wänden, Fenstern und rotem Spitzdach. Das Wollknäuel fliegt von einer Hand in die Nächste. Immer wieder wird das Wort wiederholt und anschließend eine neue Karte hoch gehalten. Manchmal sind die Worte schwierig und wollen so gar nicht über die Lippen kommen. Dann herrscht ausgelassene Heiterkeit. In dieser Woche sind die Klassen des achten und neunten Jahrgangs in der Jugendherberge. Einige Schüler sind, aus verschiedenen Gründen, nicht mitgefahren. Drei Mädchen sind es, die in dieser Zeit mit den Flüchtlingskindern Einkaufen, Kochen, Singen und Vokabeln lernen. Ein Projekt, wertvoller als jeder klassische Unterricht. Als alle Schüler später im Kreis sitzen und über den Tag reflektieren, sagt Bilal: „Ich lerne Deutsch.“ Alle nicken anerkennend. Es ist eine kleine Geste, die so vieles Bewirken kann. Es ist ein Zeichen, dass man vor dem Fremden keine Angst zu haben braucht, sondern, dass das Fremde bereichern kann, wenn man sich darauf einlässt. Unsere Schüler, Kinder, die angeblich schwächsten Glieder unserer Gesellschaft machen es vor, wo so viele Erwachsene versagen. Menschlichkeit im Angesicht der Not. Eine Erfahrung, die wichtiger ist als jedes Einmaleins.

„Woadaan!“ rufen die Kinder und winken zum Abschied mit den Händen. Dieses Mal ist es Bilal, der anerkennend nickt. Ein wenig Stolz leuchtet in seinen Augen. Ein anderer Alltag. Ein Raum, an dem er ohne Angst sein kann. Ein Ort, an dem er lernen kann. Lernen als Ausdruck der Hoffnung, eines Tages seinen Wunsch verwirklicht zu sehen. Einen Ort im Frieden zu finden, an dem er willkommen ist. Er, zusammen mit seiner Familie.

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Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule" am 28.10.2015

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