Waels „adventure“

Zweiundsechzig Personen in einem Boot, das für siebzehn Passagiere zugelassen ist. Sie sitzen dicht gedrängt, aufeinander, übereinander und nehmen Kurs aufs offene Meer. Das Boot liegt tief im Wasser. Zu tief. Verzweiflung überdeckt die Todesangst, in der Hoffnung den fremden Soldaten zu entkommen, die Spaß am Töten haben und auf alles schießen, was sich bewegt. Soldaten, die nicht zwischen Freund und Feind unterscheiden. Fort von den Bomben, die die Städte in Schutt und Asche legen, die alles vernichten, was ein Leben möglich macht. Häuser, Schulen, Einkaufszentren, Heimat, Hoffnung. Jeder Atemzug kann der letzte sein. Solange sich die Mächtigen uneins sind, solange wird das Töten weitergehen. Ist die eigene Heimat Schauplatz einer größeren Auseinandersetzung zwischen Ideologien und Machtspielchen. Die meisten von ihnen haben alles verkauft, was sie hatten und machen sich auf den langen Weg ins Ungewisse. 1.500 Euro kostet die Passage für eine Person und sie zahlen es, weil sie keine andere Wahl haben. Hilflos in einem überfüllten Boot. Dem Kapitän fehlt die Erfahrung. Scheinbar orientierungslos kreuzt er auf offenem Meer. Panik bricht aus. Weinen, Schreien, Beten, Flehen. Ein Kampf ums Überleben. Bei einem dilettantischen Versuch das Boot zu wenden, läuft es auf einen Felsen auf, der ein Loch in den Rumpf schlägt. Das Boot droht zu kentern. Menschen springen verzweifelt ins Wasser. Schließlich erreicht das Boot die griechische Küste. Mit leeren Flaschen haben die verbliebenen Passagiere bis zum Schluss Wasser aus dem Kahn geschöpft.

Heute ist der große Mann aus dem fernen Land ein Teil des Kreises in der Montessori-Schule. Die Ereignisse der vergangenen Monate haben ihn gezeichnet. Breit sind die Schultern, mächtig der Brustkorb, tellergroß die Hände. Doch der ganze Körper bebt, als er über seine Erlebnisse in dem sinkenden Boot berichtet. Sein Blick ist auf einen Punkt irgendwo in seiner Erinnerung gerichtet. Von da scheint seine Stimme aus weiter Ferne in den Klassenraum zu gelangen. Eine brüchige Stimme im holprigen Englisch. Eine Träne rinnt ihm aus dem Augenwinkel. Zeichen einer großen Trauer, die ihn zerreißt. Ein mächtiger Körper voller Schmerz.

Vor zwei Jahren floh Wael mit seiner Frau aus der Heimat. Zu Fuß. Ihr Leben zu retten. Sie ließen alles zurück. Das Haus, das gesamte Eigentum, die Freunde, die Familie.

Die erste Station ist die Türkei. Dort bleiben sie über ein Jahr. Keine Möglichkeit zu arbeiten, Geld zu verdienen, keine Zukunft. Doch sie wollen nicht fort, wollen in der Nähe der Heimat bleiben. Sie wollen zurück, sobald es Frieden gibt. Doch der Frieden bleibt aus. Das gesparte Geld geht zur Neige. Eine Entscheidung muss fallen. Der Beginn einer traumatischen Odyssee. Wael nennt sie sarkastisch „adventure“. Sein Mund lacht bei den Worten, seine Augen zeigen keine Spur von Humor. Ein Weg voller Entbehrungen, tagelanger Regenfälle ohne Essen und Trinken in einer Welt ohne Menschlichkeit. Eine Welt, wo Menschen ein Geschäft aus der Not und Verzweiflung anderer Menschen machen. Eine Welt, wo Menschen pauschal als Verbrechern beschimpft werden, weil sie aus der Heimat fliehen müssen, weil sie dort zum Krieg gegen die eigenen Brüder gezwungen werden und man sie zu lebenden Zielscheiben macht.

Wael erzählt von den Ländern Europas, durch die sie auf ihrem langen Marsch gekommen sind, wo sie in Lager gesperrt wurden, die wie Gefängnisse sind. Er erzählt von Mitmenschen, die sie wie Verbrecher behandelten, die sie traten, schlugen und beschimpften. Sie hatten im Schlamm schlafen müssen, auf der nackten Erde in menschlichen Exkrementen. Sie mussten mitansehen, wie Menschen starben und sind vor der Polizei geflohen. „Wir waren keine Menschen mehr“, sagt er, „wir waren wie Tiere, weil wir aus Syrien kommen, weil wir fliehen müssen. Fliehen vor einem Krieg, der nicht der Unsere ist.“

Die Kinder hängen an seinen Lippen. Die Augen weit aufgerissen. Sie hören dem mächtigen Mann zu. Ein Hüne mit hängenden Schultern. Sie kennen die täglichen Nachrichten, hören von den Millionen Flüchtlingen, die über die europäischen Grenzen strömen. Sie kennen die Gerüchte, von Diebstählen, von der angeblichen Gefahr des Islams und da sitzt einer vor Ihnen. Ein Flüchtling, weit entfernt von seinem Land. Er spricht über die Gründe seiner Flucht. Spricht davon, fremd im eigenen Land zu werden, weil eine Minderheit die Bevölkerung kontrolliert und zu einem rechtlosen Nichts degradiert. Und die Schüler lauschen. In seiner Heimat, in friedlichen Zeiten, sei er Bodybuilder gewesen, beantwortet er ihre Fragen. Warum er nicht lieber ein Flugticket gekauft habe, anstatt 3.000 Euro für eine selbstmörderische Fahrt in einem überfüllten Boot auszugeben, fragt ein Schüler. Weil er Syrer sei, antwortet Wael leise und sein Blick trifft auf Unverständnis in den Augen der Jungen und Mädchen. Als Syrer darf man nichts, erklärt er. Man darf kein Auto mieten, kein Boot chartern, keine Fahrkarte kaufen, kein Flugticket erwerben. Man sei wie ein Alien, nicht von dieser Erde, sagt er und seine Stimme bricht ab. Unterwegs kostet die Hilfe Geld. Viel Geld. Mehr Geld als die Meisten besitzen. Die Kinder wollen helfen, sagen sie. Sie wollen sich nicht einreihen in die rassistischen Rufe gegen verzweifelte Flüchtlinge. Wael schweigt eine Weile. Dann blickt er von einem Schüler zum anderen. Die Hilfe, sagt er schließlich, die sie geben können, ist daran zu denken, dass sie alle Menschen sind. Egal ob sie weiß, schwarz, gelb, rot oder braun seien. Es sind Menschen und wir alle haben nur diese eine Erde. Wir können nur überleben, wenn wir alle zusammen halten. Kein Mensch hat das Recht, sich über andere Menschen zu erheben, über deren Wert zu urteilen oder sie zu kontrollieren. Sie alle seien Menschen und hätten dasselbe Recht auf Leben, Frieden und Freiheit.

Für diesen einen Tag ist Wael unter ihnen und ist ein Teil dieser Klasse. Er ist beeindruckt von der Schule, von dem Lernen an diesem Ort, von den Schülern. Heute stehen nicht die Lerninhalte der Fächer Mathe, Deutsch oder Englisch im Mittelpunkt, sondern der Frieden zwischen den Menschen und ihren Kulturen, der wichtiger Bestandteil der Lehre Maria Montessoris ist. Es ist wichtig, dass es Menschen wie Wael gibt, die den Mut haben zu sprechen. Zu sprechen über ihre Gedanken, Gefühle und Erlebnisse. Es ist wichtig, ihnen die Gelegenheit zum Sprechen zu geben. Einen anderen Blick zu ermöglichen und Augen zu öffnen. Die Augen der Kinder, die die Zukunft dieser Erde sein werden und es hoffentlich eines Tages besser machen als wir Erwachsenen heute.

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Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule" am 18.11.2015

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