Inklusive Klassenfahrt

Zwischen den schroffen Sandsteinfelsen der Sächsischen Schweiz hängen schwarze Regenwolken tief im Elbtal. Sie verheißen nichts Gutes. Unsichere Blicke gehen immer wieder flehend gen Himmel. Unterwegs auf der Autobahn hatte für einen kurzen Moment die Sonne durch die Wolken geblitzt, wodurch ein Hoffnungsschimmer aufkam, die Meteorologen könnten sich mit ihrer Voraussage doch geirrt haben. Nun ist alles grau und trüb. Es ist zu kalt für einen Maitag. Regenjacken, Mützen und warme Pullover werden aus den Taschen gepackt. Zwei Schlauchboote liegen am Ufer des Flusses. Damit soll es in wenigen Minuten von Bad Schandau nach Rathen gehen.

Es ist Klassenfahrtzeit. Vor wenigen Minuten sind die Schüler der Holunderklasse aus der weiterführenden Montessori-Schule Chemnitz mit dem Bus am Bahnhof von Bad Schandau angekommen. Torsten Roder und Falk Sohr vom Aktivreise Team haben die Kinder in Empfang genommen und werden begrüßt wie alte Bekannte. Ein wenig sind sie das auch. Seit vielen Jahren ist die Klasse Holunder mit ihnen unterwegs. Die gesamte Klasse steht am Ufer bereit. Was auf dem ersten Blick völlig normal erscheint, ist hier etwas Besonderes. Die Montessori-Schule Chemnitz ist eine Einrichtung mit integrativem Anspruch. In den einzelnen Klassen lernen Schüler mit körperlicher, geistiger, sprachlicher und emotionaler Beeinträchtigung. Sie sind eine Selbstverständlichkeit im Schulalltages. Integration statt Ausgrenzung wird hier gelebt. Akzeptanz des Besonderen kann am ehesten entstehen, wenn man miteinander lebt und gemeinsam lernt. Nur so kann man verstehen, dass jeder Mensch denselben Wert hat.

Kaum sind die Boote auf dem Wasser, beginnt es zu regnen. Erst nur ein paar Tropfen, dann flächendeckender Schauer. Die Laune im Boot kann das nicht trüben. Jedes Kind, ob Besonderheit oder nicht, sitzt auf der Kante des Schlauchbootes und sticht sein Paddel in die Wellen. Eins, zwei, eins, zwei … zählen die Kinder laut im Takt. Die Schläge werden koordinierter, die Bewegungen synchroner. Das Boot nimmt Fahrt auf und bald schon, schippern die Schüler dem Regen zum Trotz die Elbe hinab.

 

Das Aktivreise Team begleitet die Holunderklasse seit mehreren Jahren auf ihren Klassenfahrten. Das Anliegen ist es, den Kindern aktionsreiche Tage zu bieten, die keine Zeit für Langeweile lässt. Eine Herausforderung. Der zweite Tag beginnt am Pfaffenstein mit einem Aufstieg, der die Schüler bald ins Schwitzen bringt, tragen die Kinder schließlich noch Klettergurte Helme und Rucksäcke mit Proviant. Die Utensilien werden sie an diesem Tag brauchen. Die Klasse wird in zwei Gruppen geteilt. Während ein Teil der Schüler zusammen mit Falk die „Bello-Höhle“ erforscht, werden die anderen einen Felsen des Elbsandsteingebirges mit Gurt und Kletterseil besteigen. Bald wird deutlich, die Höhlentour ist kein Spaziergang. Kriechend, kauernd, kletternd erkunden die Kinder die einzelnen „Räume“, die ihnen alles abverlangen. Trotzdem sind alle dabei. Wem es schwerfällt, dem wird geholfen, zusätzlicher Halt gegeben. Der ein oder andere wird von starken Händen aus einem schmalen Durchgang gezogen. Die Klasse kennt keine Unterschiede. Hier agieren sie als Einheit. Jeder schafft die Herausforderungen, die die Höhle ihm stellt und erreicht schließlich durch eine enge Passage den Ausgang.

Die anderen Schüler besteigen inzwischen mit „Torte“ zusammen den Felsen. Trotz eines Schneeschauers, der alle erstaunt zum Himmel schauen lässt, ist der Aufstieg nicht gefährdet. Die Kinder helfen sich gegenseitig beim Anlegen des Gurtes, überprüfen einander den richtigen Sitz der Schlaufe sowie den Verschluss der Karabiner und geben Hinweise zu Trittmöglichkeiten. Wer den Gipfel erreicht hat, muss sich der Herausforderung stellen, dem Halt des Seiles zu vertrauen und sich an ihm vorsichtig in die Tiefe hinab zu lassen. Auch wenn nicht jeder den Gipfel erreicht, für den Mut des Versuchs bekommt er einen Applaus von allen. Später sitzen Sie auf dem Platteau des Pfaffensteins, schauen auf den „Barbarinen-Felsen“ und genießen ein Picknick. Die Sonne hat die Wolken vertrieben und begleitet die Schüler bei der abschließenden Wanderung durch das Elbtal auf die andere Seite des Flusses zum Aktivhof in Porschdorf.

Auf der Paddeltour am Vortag passieren die Boote inzwischen den Ort „Königstein“. Von Sonne ist hier keine Spur zu sehen. Im Gegenteil, der Schauer ist inzwischen zu einem Regenguss angewachsen. Längst ist kein Schüler mehr trocken. Das Wasser tropft von Mützen und Regenjacken ins Boot und tränkt die Schuhe. Dazu pfeift den Kindern ein Gegenwind ins Gesicht, der das Boot bei nachlassendem Paddeln flussaufwärts treibt. Doch von einem Aufgeben will keiner etwas wissen. „Always look on the bright side of life“ singen sie und tauchen die Paddel im Takt ins Wasser. Kein Schüler nimmt sich zurück und paddelt, so gut er kann. Die Schwierigkeit besteht darin, ein Kräftegleichgewicht auf beiden Seiten des Bootes zu schaffen. Deshalb werden Positionen verändert oder die Rudertechniken korrigiert. Besonderheiten spielen längst keine Rolle mehr. Jeder Ruderschlag hilft, das Ziel zu erreichen.

 

Der Aktivhof ist ein alter Vierseiten-Bauernhof, der bereits zu DDR-Zeiten als Pension Gäste der Sächsischen Schweiz beherbergte. Er besteht aus einem Haupthaus, einem Garagenbau und zwei Scheunen, von denen ein Boden mit Heu bedeckt den Kindern als Nachtlager dient. Ein großer Raum, alle Kinder zusammen. Das ist spannend, verlangt aber auch gegenseitige Rücksicht am Morgen und in der Nacht, jedem den Schlaf zu lassen, den er braucht. Die Kinder sind für Ordnung, Sauberkeit und die Verpflegung selbst verantwortlich. Sie kümmern sich um das Frühstück, kochen Rührei, backen Brötchen auf und bereiten ein Buffet vor. Am Abend kochen sie Nudeln oder Kartoffeln, schneiden Zwiebeln für den Quark oder Grillen zusammen mit Falk. Der dritte Tag ist traditionell in der Nähe und auf dem Gelände des Hofes. Die Jungen wandern zum nahe gelegenen Fritzschenstein, um Zweige für das Stockbrot am Abend zu sammeln, während die Mädchen auf dem Hof Apfelkuchen backen. Am Nachmittag üben sich die Kinder im Feuermachen ohne Streichhölzer und im Pfeil-und-Bogen-Schießen. Am Abend berichtet Torte mit zahlreichen Bildern von den Entwicklungen des Projekts „Regenzeit e. V.“, einem Hilfsprojekt in Bolivien, das zeigt, zu welchen Leistungen Privatpersonen durch unermüdliches Engagement in der Lage sind. Wie jeder Abend endet auch dieser Tag am Lagerfeuer, wo die Ereignisse des Tages reflektiert werden.

Die Boote nehmen die letzte Flussbiegung und steuern in die Zielgeraden. Die Häuser des Kurortes Rathen empfangen die Kinder im trüben Regenwetter. Von weitem sehen die Schüler schon den Kleinbus des Aktivreise Teams mit dem auffällig orangefarbenen Anhänger, dessen Plane auf einer Seite, an einem Geländer vertäut, zu einem Zelt umfunktioniert wurde. Sie erreichen die Landestelle. Ungeduldig können sie es kaum erwarten, die Boote ans Ufer zu ziehen und unter der Plane Schutz zu finden. Erst jetzt wird ihnen wirklich bewusst, wie kalt es eigentlich ist. Zitternd suchen sie aus ihren Taschen im Bus trockene und warme Kleidung. Falk kocht inzwischen heißes Wasser für Tee und Wiener Würstchen. Stolz können sie sein. Sie haben die Strecke geschafft trotz unangenehmer Bedingungen. Nur allmählich lässt der Regen nach. Als sich alle Kinder aufgewärmt und gestärkt haben, beginnt der Aufstieg hinauf in das Hochland nach Porschdorf zum Aktivhof, wo die Kinder am Abend erschöpft, aber glücklich auf ihr Heulager in der Scheune fallen.

 

Sie werden in den kommenden Tagen begreifen, dass sie eine Klasse sind, eine Gruppe, die sich am schwächsten Glied orientieren muss, damit alle zusammen das Ziel erreichen. Das verlangt Geduld und ein Zurücknehmen der eigenen Person. Dafür werden sie erfahren, zu welchen Leistungen ein jeder in der Lage ist und zusammen lernen, dass jeder Mensch auf seine Art das Zusammenleben in der Gemeinschaft bereichert.

Bilder...

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Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule", "Holunder" am 19.05.2017

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