Die Wiege der Stolpersteine

„Es gibt keinen Stein, dessen Geschichte mich nicht berühren würde“, sagt der Mann im ruhigen Ton. Dabei durchbohrt sein Blick die Kinder eindringlich. Kraftstrotzend und voller Leben steht Michael Friedrichs-Friedländer an diesem Nachmittag in seiner kleinen Werkstatt am Rande der Berliner Großstadt. Dabei ist er schon vier Jahr über dem Rentenalter, erwähnt er beiläufig. Er brauche die Arbeit, betont er. Er sei körperlich schwere Arbeit seit seinem 16. Lebensjahr gewohnt. Ohne sie würde er verrückt werden.

Hinter einer unscheinbaren Metalltür inmitten einer modernen Eigenheimsiedlung befindet sich die Werkstatt Friedländers. Ein wenig wirkt sie wie eine große Garage, vollgestellt mit vielen Werkzeugen, Paletten, Betonsäcken und Messingblechen. Am Vormittag des 26. Augusts 2019 brach eine kleine Kolonne aus drei Fahrzeugen vom Hof der weiterführenden Montessori-Schule auf. Zehn Schülerinnen der Holunder-Klasse, zwei Mütter und ein Pädagoge machten sich auf den Weg in die Bundeshauptstadt. Friedländer dreht sich eine Zigarette. Für ihn ist Arbeitspause. Er würde keine Inschrift anfertigen, betont er mit Nachdruck, deren Inhalt er nicht kennen würde oder geprüft hätte. Besonders bei Inschriften in einer Fremdsprache sei das nicht so einfach. Aber im Laufe der Jahre hat er sich Grundkenntnisse angeeignet, die es ihm ermöglichen würden, auch Texte auf Ungarisch oder Hebräisch zu verstehen. Die Rede ist von Stolpersteinen, jene quadratischen Denkmäler, die in rund 1500 deutschen Städten und Gemeinden sowie in zahlreichen anderen Ländern an die Opfer nationalsozialistischer Verbrechen erinnern. Eine logistische Meisterleistung. Vor 14 Jahren habe ihn Gunter Demnig, der Initiator des Stolperstein-Projekts, angesprochen, ob er ihm helfen könne, die Steine anzufertigen, die er nicht schaffen könne. Drei Monate später hatte Friedrichs-Friedländer die komplette Produktion übernommen, da Gunter Demnig fast rund um die Uhr mit dem Verlegen der Steine in ganz Europa beschäftigt ist. Zwei Wochen Urlaub ist alles, was dem Bildhauer Friedländer im Jahr möglich ist. Die Arbeitswoche beginnt am Sonntag und endet am Freitag. Solch ein Einsatz ist nur möglich, wenn man die Arbeit mit Überzeugung angeht und es steckt viel Herzblut in diesem Projekt. In der Regel entstehen 28 Steine am Tag. Rechteckige Messingbleche werden zugeschnitten, der Text, der vorher bereits geprüft und für die Umsetzung vorbereitet wurde, wird mit Hammer und Schlagstempel von Hand in das Blech geprägt. Von der Mitte einer Zeile ausgehend, Buchstabe für Buchstabe. Anschließend werden die Bleche am Schraubstock in Form gebracht, wo sie für das Eingießen in Beton vorbereitet werden. Friedländer verwendet Spezialbeton, der über Nacht trocknet. Abschließend werden die einzelnen Platten mit viel Hingabe poliert und sorgfältig verpackt. Über 60.000 Stück sind es inzwischen. Im Vergleich zu der unvorstellbaren Zahl der Opfer des Nationalsozialismus verschwindend klein. Dennoch ist dem Künstler der Stolz anzusehen. Die Nachfrage ist groß. Auf einer Palette vor den Kindern stehen fertige Stolpersteine und glänzen im Licht der Neonröhren. Sie sind für Orte in Ungarn und Slowenien. Zwei Kisten stehen an der Eingangstür bereit für den Versand. Für Friedländer ist dieses Projekt ein ergreifendes Mahnmal. Keine Ansammlung einzelner Steine in der Welt verteilt, sondern ein zusammenhängendes Kunstwerk zum Gedenken an die Opfer. Die Größe der Steine und auch die Position, eingelassen in den Boden, sind bewusst gewählt. In der Regel neigen sich die Menschen, um die Inschrift am Boden lesen zu können, nach vorn. Das sieht aus, als würden sie sich vor den Opfern in Ehrerbietung verbeugen. Er spricht von Ländern, wie den Niederlanden, die sich lange gesträubt haben, an dem Projekt teilzunehmen und nun ständig neue Steine ordern. Er sinniert über Städte, die es nach wie vor ablehnen, Stolpersteine zu verlegen und über bewussten Zerstörungen oder Verschmutzungen durch Gegner des Projekts. Friedländer liest viel. Jeden Morgen beginnt er den Tag mit einem Kaffee und dem Lesen von ein paar Seiten. Manchmal sind es sogar zwei Bücher, die er parallel liest.

Schnell kommt man in dem Gespräch auf die aktuelle politische Lage in Deutschland und der Welt zu sprechen. Verständnislosigkeit über das Erstarken von antidemokratischen Nationalstaatsgedanken. Deshalb, meint er, sei es so wichtig, dieses Projekt, gegen das Vergessen. Nein, sagt er, unsere Generation trägt keine Schuld, aber Verantwortung. Daher sei er immer bereit, Kinder und Jugendliche zu empfangen.

Die Zeit vergeht wie im Flug. 14 Messingplatten seien bisher vorbereitet, zeigt er die begonnen Inschriften. Er wird heute noch lange arbeiten müssen, will er die vorgegebene Stückzahl schaffen. Die Verlegungen der Steine sind bereits terminiert. Ein Aufschub praktisch nicht möglich. Was passiert, wenn er einmal krank würde, möchte eine Schülerin wissen. Kurz stutzt Friedländer. Er können sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal krank gewesen sei und fügt mit einem Schmunzeln hinzu, dass er keine Zeit habe, krank zu sein.

Kurze Zeit später stehen die Kinder in der spätsommerlichen Sonne vor dem Haus. Noch während sie in das Auto steigen, vernehmen sie die gleichmäßigen Schläge des Hammers, der bereits wieder die Buchstaben der Schlagstempel in das Metall treibt. Es ist beeindruckend zu sehen, wie Friedländer sein Leben in den Dienst eines Projekts stellt, das sich zur Aufgabe macht, den anonymen Zahlen von Opfern ein Gesicht zu geben. Ein Projekt, das Menschen verbindet und Familien wieder vereint.

Es gebe so viele Geschichten zu erzählen, dass man Bücher mit ihnen füllen könnte, sagt der Künstler ernst. Aber dafür, fügt er schließlich lachend hinzu, fehle ihm die Zeit.

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Die Wiege der Stolpersteine
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Veröffentlich in der Kategorie "Oberschule" am 24.09.2019

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